EMRK Art. 13, 35 III, 41; Protokoll Nr. 1 zur EMRK Art. 1
Deckelung von Anwaltsgebühren – mehrere tausend Nebenkläger im Strafprozess
EGMR (IV. Sektion) Urteil vom 25.1.2022 - 54780/15 ua (Dänoiu ua/Rumänien)
Fundstelle: NJW 2023, S. 2021

  1. Der Gerichtshof kann eine Beschwerde insbesondere für missbräuchlich im Sinne von Art. 35 III Buchst. a EMRK erklären, wenn sie bewusst auf unwahre Tatsachenbehauptungen gestützt wird.

  2. Auch eine unvollständige und damit irreführende Information kann ein Missbrauch des Individualbeschwerderechts sein, besonders wenn sie den Kern der Beschwerde betrifft und der Beschwerdeführer nicht ausreichend erklärt, warum er keine zutreffenden Informationen gegeben hat.

  3. Dasselbe gilt, wenn im Laufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof wichtige neue Entwicklungen eingetreten sind und der Beschwerdeführer den Gerichtshof entgegen der Verpflichtung, die ihm in Art. 47 VII VerfO auferlegt wird, nicht informiert.

  4. Wenn Rechtsvorschriften für beigeordnete Anwälte eine „berechtigte Erwartung" begründen, dass ihnen die Vergütung in der Höhe, wie sie sich aus den Vorschriften ergibt, ausgezahlt wird, fällt diese Erwartung unter den Begriff „Eigentum" im Sinne von Art. 1 Protokoll Nr. 1 zur EMRK.

  5. Die Kürzung von Honoraren der Anwälte ist nach den besonderen Umständen des Falls eine „Regelung der Benutzung des Eigentums" im Sinne von Art. 1 II Protokoll Nr. 1 zur EMRK und also ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Schutz ihres Eigentums, der gerechtfertigt sein muss.

  6. Art. 1 Protokoll Nr. 1 zur EMRK verlangt, dass ein Eingriff einer staatlichen Institution in das Recht auf Achtung des Eigentums dem Gesetz entspricht: Absatz 1 Satz 2 erlaubt eine Eigentumsentziehung nur „unter den durch Gesetz ... vorgesehenen Bedingungen". Das Gesetz muss eine bestimmte Qualität haben, es muss dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit entsprechen und Garantien gegen Willkür geben. Das bedeutet, dass jeder Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums von Verfahrensgarantien begleitet sein muss, die dem Betroffenen angemessen ermöglichen, die Maßnahme wirksam anzufechten.

  7. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Eigentums entspricht nur dem Recht des Konventionsstaats einschließlich der Verfassung, wenn die Rechtsnormen, auf die er sich stützt, ausreichend zugänglich, bestimmt und in ihrer Anwendung vorhersehbar sind.

  8. Die Beiordnung der Anwälte und die Reduzierung ihrer Honorare hat sie nicht zu „Zwangs- oder Pflichtarbeit" im Sinne von Art. 4 EMRK verpflichtet.

  9. Wenn das staatliche Recht die Wiederaufnahme eines Verfahrens für den Fall ermöglicht, dass der Gerichtshof eine Verletzung der Grundrechte oder Grundfreiheiten eines Antragstellers festgestellt hat, ist das grundsätzlich ein angemessenes Mittel, die festgestellte Konventionsverletzung wiedergutzumachen im Sinne von Art. 41 EMRK.


Leitsatz des Bearbeiters der NJW

107 Abs. 5 OWiG
Aktenversendungspauschale für die Übersendung des Ausdrucks einer digitalen Akte

AG Verden (Aller), Beschl. v. 5.7.2021 9b OWi 245 Js 25572/21 (290/21)
Fundstelle: AGS S. 2021, S. 428

107 Abs. 5 OWiG ist dahingehend auszulegen, dass die Aktenversendungspauschale für einen Ausdruck einer eigentlich digital geführten Akte nur dann anfällt, wenn der Antragsteller dieses - nämlich den Ausdruck - besonders beantragt hat.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

 

86 Abs. 1 S. 2 VVG; § 812 Abs. 1 BGB
Quotenvorrecht in der Rechtsschutzversicherung

AG Lingen, Urt. v. 17.2.2021 - 4 C 467/20, rechtskräftig
Fundstelle: AGS 2021, S. 476

  1. Gerichtskostenerstattungen sind Fremdgelder und an den Rechtsschutzversicherer zu erstatten, soweit er diese bevorschusst hat.
  2. Jeder Gesellschafter einer Anwalts GbR haftet für Ansprüche gegen die GbR.
  3. Es besteht kein Quotenvorrecht des Mandanten bei Gerichtskostenerstattungen, da lediglich die Versicherungsleistung nachträglich reduziert wird.
  4. Eine Aufrechnung des Anwalts mit eigenen Gebührenansprüchen scheitert an der fehlenden Aufrechnungslage.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

 

§ 15, 18 Abs. 1 Nr. 1 R\/G; Nr. 3309 VV RVG
Keine gesonderte Vergütung bei mehrfacher Vollstreckungsandrohung

AG Nordhausen, Beschl. v. 8.2.2021 - M 84/21
Fundstelle: AGS 2021, S. 356

Wird nach einer Vollstreckungsandrohung eine Zahlungsvereinbarung geschlossen, aber nicht eingehalten und wird daraufhin die Vollstreckung nochmals angedroht und schließlich durchgeführt, handelt es sich insgesamt nur um eine einzige gebührenrechtliche Angelegenheit.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

 

Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG; Nr. 4302 VV RVG, §§ 140 ff. StPo
Pflichtverteidiger im Haft(prüfungs-)termin
LG Magdeburg, Beschl. v. 16.7.2021 - 21 Qs 53/21 und 54/21
Fundstelle: AGS 2021, S. 427


Auch der Pflichtverteidiger, der nur für einen Tag bzw. Termin bestellt ist, ist für diesen begrenzten Zeitraum umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut. Daher kommt auch angesichts der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung eine gebührenrechtliche Einstufung der Tätigkeit als Einzeltätigkeit nicht in Betracht.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

 

86 Abs. 1 S. I VVG; § 17 Abs. 9 ARB; § 199 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, §§ 242, 675 BGB; Art. 229 § 6 Abs. 4 S. 1 EGBGB
Schadensersatzanspruch des Rechtsschutzversicherers aus übergegangenem Recht

LG Würzburg, Urt. v. 1.4.2021 - 12 0 2251/19
Fundstelle: AGS 2021, S. 474

 

  1. Gem. § 86 VVG gehen auch Schadenersatzansprüche des Versicherungsnehmers gegen den Anwalt wegen fehlerhafter Prozessführung auf den Rechtsschutzversicherer über.
  2. Wissentlich wahrheitswidrige Angaben des Anwalts im Mahnbescheid - eine Gegenleistung sei bereits erbracht - lösen einen Schadensersatzanspruch aus, wenn dadurch die verjährungshemmende Wirkung entfällt.
  3. Auch eine fehlerhafte Berechnung der Anwaltsgebühren als Nebenforderung im Mahnbescheid, die zu einer verzögerten Zustellung und damit zum Eintritt der Verjährung führt, geht zu Lasten des Anwalts.
  4. Der Einwand, ein Prozess wäre ohnehin verloren gegangen, es sei daher kein Schaden entstanden, ist für den Prozesskostenschaden unerheblich.
  5. Ein Mitverschulden der Rechtsschutzversicherung liegt nicht vor.

 Leitsatz der Schriftleitung der AGS

 

 

 

 

 

Nr. 3102 VV RVG; §§ 1, 3 Abs. S. 1, 14 Abs. l, 56 Abs. 2 RVG
Höhe der Verfahrensgebühr in Angelegenheiten, in welchen die Gewährung von SGB II-Leistungen nicht dem Grunde nach streitig ist

LSG NRW, Beschl. v. 1.7.2021 - L 19 AS 404/21 B
Fundstelle: AGS 2021, S. 366

  1. Auch Streitigkeiten, in welchen Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II nicht dem Grundenach streitig sind, haben grundsätzlich eine überdurchschnittliche Bedeutung.
  2. Zwei Besprechungen mit der Klägerin mit einer Dauer von insgesamt einer Stunde sind nicht durchschnittlich umfangreich.
  3. Eine unterdurchschnittliche Verfahrensgebühr ist dann gerechtfertigt, wenn trotz der erheblichen Bedeutung der Angelegenheit keine zeitintensiven Tätigkeiten im Verfahren angefallen sind.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

58 Abs. 2 RVG; Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG
Anrechnung der Geschäftsgebühr bei quotaler Kostenerstattung

Bayerisches LSG, Beschl. v. 24.2.2021 - L 12 SF 161/20
Fundstelle: AGS 2021, S. 463

Ist der Anwalt in einem sozialgerichtlichen Verfahren im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden und ergibt sich ein anteiliger Kostenerstattungsanspruch gegen die beklagte Behörde, der auch die Kosten des Widerspruchsverfahrens umfasst, so ist die Anrechnung der Geschäftsgebühr nach § 58 Abs. 2 RVG so zu berechnen, dass der Anwalt nicht mehr erhält als die volle Wahlanwaltsvergütung auf Geschäfts- und Verfahrensgebühr.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS

Nr. 1002 VV RVG
Anwaltliche Mitwirkung bei der Erledigungsgebühr

OVG des Saarlandes, Beschl. v. 18.6.2021 - 2 E 141/21
Fundstelle: AGS 2021, S. 364

Die Entstehung einer Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV setzt voraus, dass sich ein Rechtsstreit ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch anwaltliches Mitwirken erledigt. Eine anwaltliche Mitwirkung in diesem Sinne erfordert eine besondere, auf Beilegung der Sache ohne Entscheidung des Gerichts gerichtete und zur Erledigung nicht nur unwesentlich beitragende Tätigkeit des Rechtsanwalts. Hierfür sind besondere Bemühungen mit dem Ziel der Erledigung der Rechtssache erforderlich, die über eine „normale", durch die Tätigkeitsgebühren abgegoltene Prozessführung hinausgehen.

Leitsatz der Schriftleitung der AGS
 

 

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