EMRK Art. 6, 8, 13, 35 I, III Buchst. a, 41
Beschlagnahme elektronischer Daten in einer Anwaltskanzlei
EGMR (II. Sektion), Urteil vom 3.12.2019 - 14704/12
(Kirdök ua/Türkei)
Fundstelle: NJW 2020, S. 3507

 

  1. Eine Beschlagnahme in der Kanzlei eines Anwalts ist ein Eingriff in das nach Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung seiner Wohnung und Korrespondenz. Der Begriff „Korrespondenz" in Art. 8 EMRK schließt auch Festplatten von Computern und elektronische Korrespondenz ein.
  2. Ein Eingriff in diesem Sinne liegt nicht erst vor, wenn die Daten entschlüsselt, transkribiert oder amtlich zugeordnet wurden. Schon die Einbehaltung einer Kopie beschlagnahmter Daten ist ein Eingriff in das durch das Anwaltsgeheimnis geschützte Verhältnis des Anwalts zu seinen Mandanten. Anders als die Regierung meint, ist Art. 8 EMRK daher im vorliegenden Fall anwendbar.
  3. Ob die Beschwerdeführer vorhersehen konnten, dass ihr Antrag auf Rückgabe oder Löschung der Daten abgelehnt werden würde, der Eingriff also im Sinne von Art. 8 II EMRK „gesetzlich vorgesehen" war, kann angesichts der Entscheidung über die Notwendigkeit des Eingriffs dahingestellt bleiben.
  4. Bei dem Eingriff ging es um die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, berechtigte Ziele im Sinne von Art. 8 II EMRK.
  5. Anwälte spielen eine tragende Rolle in der Rechtspflege. Maßnahmen, die ihr Verhältnis zu ihren Mandanten berühren, müssen daher genauestens geregelt sein.
  6. Beschlagnahmen in einer Anwaltskanzlei müssen unter allen Umständen von vorhersehbaren, klar und bestimmt gefassten Verfahrensgarantien begleitet sein. Insbesondere gegen Missbrauch und Willkür müssen sie angemessenen und ausreichenden Schutz gewähren. Ihre Einhaltung muss besonders streng kontrolliert werden.
  7. Der Schutz des Berufsgeheimnisses des Anwalts ist im Übrigen die logische Folge des Rechts eines Mandanten, sich nicht selbst zu beschuldigen. Er gehört damit zu den Rechten der Verteidigung im Sinne von Art. 6 EMRK.
  8. Im vorliegenden Fall   
    • war der Durchsuchungsbefehl so weit gefasst, dass er den Strafverfolgungsbehörden erlaubte, generell alle elektronischen Daten in den Büros der Beschwerdeführer zu prüfen und alle Daten auf ihrem Computer und einem USB-Stick zu beschlagnahmen;
    • gab es keine besonderen Schutzmaßnahmen gegen eine Verletzung des Anwaltsgeheimnisses, insbesondere kein Filterverfahren für unter das Anwaltsgeheimnis fallende Unterlagen und elektronische Daten und auch kein ausdrückliches Verbot, solche Unterlagen und Daten zu beschlagnahmen;
    • wurde der Antrag auf Rückgabe oder Löschung der Daten nicht mit der erforderlichen Strenge geprüft, seine Ablehnung lediglich damit begründet, die Durchsuchung sei rechtmäßig gewesen.
  9. Die Beschlagnahme der elektronischen Daten der Beschwerdeführer und die Weigerung, sie zurückzugeben oder zu löschen, waren daher nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Art. 8 II EMRK. Insofern ist Art. 8 EMRK verletzt. 

Leitsatz des Bearbeiters

 

 

Richtline 87/344/EWG

Rechtsschutzversicherung – Freie Anwaltswahl durch den Versicherungsnehmer

EuGH, Urt. v. 10.09.2009 – Rechtssache C-199/08

Ein Rechtsschutzversicherer kann sich in seinen allgemeinen Bedingungen nicht das Recht vorbehalten, in Fällen, in denen eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis geschädigt sind, selbst den Rechtsvertreter aller betroffenen Versicherungsnehmer auszuwählen.

Leitsatz des Verfassers des KammerReports

Richtline 87/344/EWG Art. 4 Abs. 1 lit. a

Freie Anwaltswahl durch Versicherungsnehmer auch bei Massenschadensfällen

EuGH (2. Kammer), Urt. v. 10.09.2009 – Rechtssache C-199/08 (Erhard Eschig/UNIQA Sachversicherungs-AG)

Fundstelle: NJW 2010, S. 355 ff

Art. 4 lit. a der Richtlinie 87/344/EWG des Rates vom 22.6.1987 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Rechtschutzversicherung ist dahin auszulegen, dass der Rechtsschutzversicherer sich in dem Fall, dass eine größere Anzahl von Versicherungsnehmern durch dasselbe Ereignis geschädigt ist, nicht das Recht vorbehalten kann, selbst den Rechtsvertreter aller betroffenen Versicherungsnehmer auszuwählen.

 

Leitsatz des Gerichts

 

EMRK Art. 8, 35 Abs. 3, 41

Durchsuchung einer Anwaltskanzlei

EGMR (I. Sektion), Urt. v. 09.04.2009 – 19856/04 (Kolesnichenko/Russland)

1.      Der Begriff „Wohnung“ in Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) umfasst nicht nur die Privatwohnung, sondern auch Geschäftsräume, insbesondere die Kanzlei eines Rechtsanwalts.

2.      Die Verfolgung und Behinderung von Anwälten berührt den Kernbereich des Konventionssystems. Deswegen muss die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei besonders sorgfältig geprüft werden.

3.      Die Durchsuchung ist ein Eingriff in das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Wohnung. Bei der Prüfung, ob sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ i. S. von Art. 8 Abs. 2 EMRK ist, stellt der Gerichtshof insbesondere darauf ab, ob es im staatlichen Recht wirksame Garantien gegen Missbrauch und Willkür gibt.

4.      Bei Durchsuchung einer Anwaltskanzlei müssen unabhängige Zeugen zugezogen werden, die beurteilen können, ob geschützte Unterlagen eingesehen und beschlagnahmt werden. Wenn sie keine juristische Ausbildung haben, sind sie keine geeigneten Zeugen.

5.      Bei der Beurteilung der Notwendigkeit berücksichtigt der Gerichtshof die Auswirkungen einer Durchsuchung auf die Arbeit und den Ruf eines Anwalts.

6.      Die Durchsuchungsanordnung muss, soweit das praktisch möglich ist, begrenzt und so gefasst sein, dass sie die Auswirkungen in angemessenen Grenzen hält.

 

Leitsatz des Bearbeiters der NJW

EMRK Art. 8, 35 I, 41

Durchsuchung und Beschlagnahme elektronisch gespeicherter Daten in einer Anwaltskanzlei

EGMR, Urt. vom 16.10.2007 – 74336/01 (Wieser u. Bicos Beteiligungen GmbH/Österreich)1.  Mit der Durchsuchung und Beschlagnahme von elektronisch gespeicherten Daten in der Kanzlei des Beschwerdeführers zu 1 haben die Behörden in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihrer „Korrespondenz“ i. S. von Art. 8 EMRK eingegriffen.1

2.  Bei Prüfung der Frage, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war (Art. 8 II EMRK), kommt es unter anderem darauf an, ob das Recht und die Praxis des beklagten Staats angemessene und wirksame Garantien gegen Missbrauch und Willkür vorsehen.1

 3.  Das ist nach der österreichischen StPO unbestritten der Fall. Doch haben die mit der Durchsuchung und Beschlagnahme der Daten beauftragten Beamten einige der verfahrensrechtlichen Sicherungen, die Missbrauch und Willkür verhindern und das Recht des Anwalts auf Verschwiegenheit schützen sollen, nicht beachtet. Insoweit waren Durchsuchung und Beschlagnahme zum verfolgten berechtigten Ziel – Verhütung von Straftaten – nicht verhältnismäßig.1

4.  Wenn er eine Verletzung der Konvention festgestellt hat, kann der Gerichtshof dem Beschwerdeführer nur solche Kosten und Auslagen für das Verfahren vor den
     staatlichen Behörden ersetzen, die notwendig waren, um die Verletzung der Konvention zu verhindern oder wiedergutzumachen, und die der Höhe nach angemessen sind.
 

Leitsatz des Bearbeiters der NJW

 

Zu der Individualbeschwerde Albrecht Wendenburg u.a. gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Urteils des BVerfG vom 13.12.2000 zur Verfassungswidrigkeit der Singularzulassung beim OLG gem. § 25 BRAO

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, B. v. 6. Februar 2003 – Beschwerde-Nr.: 71630/01  

1. Soweit die Beschwerde den Verlust zukünftigen Einkommens betrifft, geht sie über den Rahmen des Art. 1 des Protokolls Nr. 1 hinaus, der nur auf bestehenden Besitz anwendbar ist.

2.   Art. 1 erstreckt sich jedoch auf die Anwaltskanzlei als solche und ihre Mandanten, da diese Einheiten einen gewissen Wert im Sinne eines Vermögenswertes darstellen und daher Eigentum gemäß des ersten Satzes von Art. 1 sind1).

3.   Selbst wenn die Entscheidung des BVerfG einen Eingriff in den Besitzstand gem. Art. 1 darstellte, wäre dieser Eingriff nach Abs. 2 gerechtfertigt1).

4.   Im Hinblick auf das vom BVerfG in diesem Fall verfolgte Ziel gilt, dass die maßgeblichen nationalen Gerichte einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Notwendigkeit einer Kontrollmaßnahme genießen. Ein Urteil wird insoweit respektiert, als es nicht offensichtlich willkürlich und unbegründet ist1).

5.   In seiner Entscheidung hat das BVerfG sowohl das allgemeine Interesse an einer ordnungsgemäßen Rechtspflege als auch die Interessen des juristischen Berufsstandes und das individuelle Interesse der betroffenen RAe berücksichtigt1).

6.   In Verfahren, die eine Entscheidung für eine kollektive Anzahl von Einzelpersonen zum Gegenstand haben, ist es nicht immer erforderlich oder sogar möglich, dass jede betroffene Einzelperson vor dem Gericht angehört wird1).

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, B. v. 6. Februar 2003 –
Beschwerde-Nr.: 71630/01

 

(Fundstelle: BRAK-Mitt. 2003, 70 ff.)