OLG Celle: Kein Ermessensspielraum des Rechtsanwalts bei der Gebührenbestimmung

Ein Rechtsanwalt kann nur dann die Erhöhung der 1,3-fachen Geschäftsgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr verlangen, wenn die Voraussetzungen von Nr. 2300 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG vorliegen, d.h. die Tätigkeit umfänglich oder schwierig war. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, unterliegt der gerichtlichen Überprüfung (entgegen BGH, MDR 2011, 454 f.)

Nach Auffassung des Senats war in der zugrunde liegenden Entscheidung eine Erhöhung der 1,3-fachen Regelgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr - wie vom Kläger beantragt - nicht gerechtfertigt. Die Sache sei für den Rechtsanwalt des Klägers nicht überdurchschnittlich aufwändig oder schwierig gewesen. Es handele sich für den Klägervertreter in diesem Verfahren um einen durchschnittlich schwierigen Verkehrsunfall, nämlich lediglich um die Abwicklung von Sachschäden aus einem Verkehrsunfall. Ein über den durchschnittlichen Verkehrsunfall hinausgehender Aufwand oder eine besondere Schwierigkeit sei weder vorgetragen noch sonst aus der Akte ersichtlich. Der Sachschaden als solcher sei unstreitig. Die Parteien stritten in der Sache lediglich - wie regelmäßig - um die Haftungsquote.
Der Senat sei auch nicht an die Bestimmung einer 1,5-fachen Geschäftsgebühr durch den Rechtsanwalt gebunden. Zwar räumt der 9. Zivilsenat des BGH dem Rechtsanwalt auch im Rahmen von Nr. 2300 VV RVG einen Spielraum zur Gebührenbestimmung von 20 % (sog. Toleranzgrenze) mit der Folge ein, dass im Falle einer lediglich durchschnittlich aufwändigen Tätigkeit dennoch die Erhöhung der 1,3-fachen Geschäftsgebühr auf eine 1,5-fache Gebühr einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen sei (BGH, MDR 2011, 454 f.). Allerdings stoße diese Rechtsprechung zu Recht auf Kritik (vgl. Finanzgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.7.2011, Az.: 2 KO 225/11; AG Halle (Saale), Beschluss vom 20.7.2011, Az.: 93 C 57/10; Hansens, Urteilsanmerkung in ZfSch 2011, 465; siehe ferner OLG Jena, JurBüro 2005, 303). Der Senat teile diese Kritik und folge nicht der o.g. Rechtsprechung des BGH. Der Gesetzgeber habe für den „Durchschnittsfall“ in Nr. 2300 VV RVG (bzw. zuvor in Nr. 2400) als Regelsatz die 1,3-fache Gebühr vorgesehen. Für eine darüber hinaus gehende Gebühr hat er ausdrückliche Kriterien dahingehend festgelegt, dass der Rechtsanwalt eine Gebühr von mehr als 1,3 nur fordern kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war. Diese Voraussetzungen unterliegen der gerichtlichen Überprüfung. Das kann nicht durch die vom BGH herangezogene Toleranzgrenze eingeschränkt werden. Der eindeutige Wortlaut einer Vorschrift zieht einer richterlicher Auslegung Grenzen (vgl. BVerfG, Verwaltungsrundschau 2011, 250). Nr. 2300 VV RVG sieht es aber nicht vor, dass sich der Rechtsanwalt durch einseitige Bestimmung in einem „Durchschnittsfall" anstelle einer 1,3-fachen Regelgebühr zu einer gerichtlich nicht nachprüfbaren 1,5-fachen Geschäftsgebühr verhelfen kann.

OLG Celle Urt. v. 28.12.2011 – 14 U 107/11