Erst seit Ende 2021 war die Wiederaufnahme eines bereits durch Freispruch abgeschlossenen Strafverfahrens bei Mord und bestimmten völkerstrafrechtlichen Delikten auch dann möglich, wenn neue Beweismittel eine Verurteilung hoch wahrscheinlich erscheinen lassen. Der neue § 362 Nr. 5 der Strafprozessordnung (StPO) ergänzt die bereits vorhandenen Wiederaufnahmegründe, die nur in Härtefällen eingreifen, und war bereits im Gesetzgebungsverfahren stark umstritten. Am 31.10.2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Regelung für verfassungswidrig erklärt.
Der Entscheidung liegt ein Fall zugrunde, in dem der Beschwerdeführer vorgeworfen worden war, im Jahr 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Im Jahr 1983 wurde er rechtskräftig freigesprochen. Nach Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO nahm das Landgericht Verden das Strafverfahren wegen neu vorliegender Beweise wieder auf und ordnete Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hatte keinen Erfolg. Dagegen wandte sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde, mit der er eine Verletzung des ne bis in idem-Grundsatzes aus Art. 103 III Grundgesetz (GG) und des Rückwirkungsverbots rügte.
Das BVerfG hob zunächst Mitte Juli auf den Eilantrag des Beschwerdeführers seine Freilassung aus der Untersuchungshaft an. Nunmehr entschied das Gericht über die Verfassungsbeschwerde und erklärte den Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig.
Das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 103 III GG gewähre der Rechtssicherheit Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit; auch das Strafrecht gebiete keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“. Diese Vorrangentscheidung sei absolut und nicht mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang abwägungsfähig (diese Frage wurde mit einer Mehrheit von 6:2 Stimmen so entschieden; die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes als solche einstimmig). Ebenso verstoße die Norm des § 362 Nr. 5 StPO gegen das Rückwirkungsverbot bei Verfahren, die vor Inkrafttreten der Norm bereits rechtskräftig abgeschlossen waren. Eine solche „echte“ Rückwirkung sei auch nicht ausnahmsweise zulässig. Auch die Unverjährbarkeit der erfassten Delikte gebiete keine andere Beurteilung.
In seiner Begründung bedient sich das BVerfG interessanterweise auch eines Arguments, das die Befürworter der Norm häufig anführen, nämlich dem Strafverfolgungs- bzw. Genugtuungsinteresse der Hinterbliebenen. So würde „ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie endete, […] für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre.“
Im Ergebnis muss daher auch das vor dem Landgericht Verden geführte Wiederaufnahmeverfahren gegen den Beschwerdeführer beendet werden.
Die BRAK hatte sich bereits während des Gesetzgebungsverfahrens vehement gegen die Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes ausgesprochen.
Weiterführende Links:
BVerfG, Urt. v. 31.01.2023 – 2 BvR 900/22
BVerfG, Pressemitteilung Nr. 94/2023 v. 31.10.2023
Kirchberg/Strate, BRAK-Magazin 4/2023, 6 (Bericht aus der mündlichen Verhandlung des BVerfG)
Stellungnahme Nr. 14/2022
Nachrichten aus Berlin 7/2022 v. 6.4.2022 (Position der BRAK zur Wiederaufnahme nach Freispruch)
Presseerklärung Nr. 7/2021 v. 2.6.2021
Nachrichten aus Berlin 1/2022 v. 12.1.2022 (Inkrafttreten des neuen Wiederaufnahmegrundes)