Haftungsbescheide gegen Rechtsanwälte und Steuerberater[1]

von Rechtsanwältin Elke Werner, Dortmund

 

Beabsichtigt die Finanzbehörde, gegen einen Berufsträger, nämlich gegen einen Rechtsanwalt, Patentanwalt, Notar, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer, wegen einer Handlung, die dieser in Ausübung seines Berufs vorgenommen hat, einen Haftungsbescheid (§ 191 Abs. 1 AO) zu erlassen, hat sie der zuständigen Berufskammer Gelegenheit zu geben, die Gesichtspunkte vorzubringen, die von ihrem Standpunkt für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 191 Abs. 2 AO i. V. m. § 69 AO).

 

Anhörung der Berufskammer

Diese Regelung ist im Zusammenhang mit einer ähnlichen Regelung in § 411 AO betreffend den Erlass von Bußgeldbescheiden gegen die dort genannten Berufsträger zu sehen. Die Aufzählung der Berufsträger in § 191 Abs. 2 AO ist abschließend. Jedoch ist die Bestimmung auf Steuerberatungs-, Wirtschaftsprüfungs-, Buchführungs- und Rechtsanwaltsgesellschaften analog anzuwenden, da diese ebenso schutzwürdig sind wie die Berufsträger selbst (siehe nur Tipke/Kruse-Loose, AO, § 191 Rn. 30 m. w. N.).

Die Norm trägt der Möglichkeit einer Pflichtenkollision der genannten Berufsträger Rechnung, die dadurch entsteht, dass diese Personen einerseits die Interessen ihrer Auftraggeber wahrzunehmen haben, andererseits aber für vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzungen der diesen Personen obliegenden Pflichten haften (Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 28). Ist der Berufsträger zugleich Rechtsanwalt, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, müssen die Rechtsanwaltskammer, die Steuerberaterkammer und die Wirtschaftsprüferkamm angehört werden (Klein/Rüsken, AO, § 191 Rn. 89).

Die Anhörung der zuständigen Berufskammer nach § 191 Abs. 2 AO ist nur erforderlich, wenn der Berufsträger nach § 69 AO i. V. m. §§ 34, 35 AO –Haftung der Vertreter bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten – in Haftung genommen werden soll. Die Pflichtverletzung i. S. des § 69 AO muss dabei nicht zugleich eine Berufspflichtverletzung darstellen. Wird die Haftung des Berufsträgers auf eine andere Haftungsnorm als auf § 69 AO gestützt, kann von einer Anhörung der Berufskammer abgesehen werden.

Die Beschränkung der Privilegierung des § 191 Abs. 2 AO auf Haftungsfälle nach § 69 AO ist damit zu rechtfertigen, dass es nur dort zu Pflichtenkollisionen kommen kann. Greift eine andere Haftungsnorm (z. B. § 71 AO), handelt der Berufsträger entweder nicht in Ausübung seines Berufs oder die Erfüllung des haftungsbegründenden Tatbestands gehört aus anderen Gründen nicht zu seinen Berufspflichten (Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 31).

Der Berufsträger muss nach § 191 Abs. 2 AO in Ausübung seines Berufs tätig geworden sein. Neben den typischen Tätigkeiten des jeweiligen Berufsträgers gehört z. B. auch das Tätigsein als Testamentsvollstrecker, Insolvenz- und Nachlassverwalter sowie als Vormund zur Ausübung des Berufs (zu Einzelheiten siehe z. B. Klein/Rüsken, a. a. O., Rn. 90; Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 32). Dagegen fällt die hauptberufliche Tätigkeit als Geschäftsführer einer GmbH oder als Vorstand einer AG nicht in den Aufgabenbereich eines Berufsträgers i. S. des § 191 Abs. 2 AO (so Klein/Rüsken, a. a. O., Rn. 90). Die Vorschrift ist auch nicht anzuwenden, wenn der Berufsträger z. B. als Geschäftsführer einer Steuerberatungsgesellschaft tätig ist und es um die steuerlichen Pflichten der von ihm geführten Gesellschaft geht (Klein/Rüsken, a. a. O., Rn. 90).

Abgabe der Stellungnahme durch Berufskammer

Der Berufskammer ist eine angemessene Frist zur Abgabe der Stellungnahme einzuräumen. Die Stellungnahmefrist soll in der Regel zwei Monate betragen (AEAO zu § 191 Nr. 7). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann sowohl eine Verlängerung als auch eine Verkürzung der Frist in Betracht kommen (Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 34). Äußert sich die Berufskammer nicht innerhalb der Frist, kann der Haftungsbescheid erlassen werden.

Die Abgabe einer Stellungnahme durch die Berufskammer ist nämlich nicht Voraussetzung für den Erlass des Bescheids; es reicht aus, dass der Berufskammer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist. Ebenso wenig ist Voraussetzung für den Erlass des Haftungsbescheids, dass ein berufsrechtliches Verfahren durchgeführt wird. Dieses hat seinen Grund darin, dass die haftungsbegründende Pflichtverletzung i. S. des § 69 AO nicht gleichzeitig eine Berufspflichtverletzung sein muss (Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 29).

Die Finanzbehörde ist an die Stellungnahme der Berufskammer nicht gebunden. Sie allein entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Berufsträgers gegeben sind. Sie hat allerdings die Stellungnahme der Berufskammer bei ihrer (Ermessens-)Entscheidung zu berücksichtigen.

       Praxishinweis

Unterlässt es die Finanzbehörde, die Berufskammer vor Erlass des Haftungsbescheids anzuhören, ist der gleichwohl ergangene Bescheid nicht nichtig, sondern nur anfechtbar (siehe nur Tipke/Kruse-Loose, a. a. O., Rn. 35 m. w. N.). Die Anhörung kann mit heilender Wirkung nachgeholt werden.

Die Nachholung der Anhörung und damit die Heilung des Verfahrensfehlers ist möglich bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz im finanzgerichtlichen Verfahren (§ 126 Abs. 2 AO i. V. m. § 126 Abs. 1 Nr. 5 AO – hierzu Klein/Brockmeyer/Ratschow, AO, § 126 Rn. 9; Tipke/Kruse-Tipke, AO, § 126 Rn. 9). Dies Erweiterung der zeitlichen Grenze für die Möglichkeit der Nachholung der unterlassenen Verfahrenshandlung ist durch das StÄndG 2001 vom 30.12.2001 (BGBl. I 01, 3794) geschaffen worden (siehe hierzu z. B. Tipke/Kruse-Tipke, a. a. O., Rn. 9, Klein/Brockmeyer/Ratschow, a. a. O., Rn. 1).


Erstveröffentlichung in der Praxis Steuerstrafrecht 08/2012, 197 ff., pstr.iww.de, IWW Institut für Wissen in der Wirtschaft GmbH & Co. KG